“Mein Name ist Olia Fedorova.
https://www.oliafedorova.com/
Ich bin eine interdisziplinäre Künstlerin, die in Charkiw, Ukraine, geboren wurde, dort lebte und arbeitete. Bevor der Krieg in meinem Land voll ausbrach, arbeitete ich vor allem mit Landschaften und betrachtete sie als semantische Räume. Zumeist griff ich mit meinem eigenen Körper oder einigen temporären Objekten sanft in sie ein und beobachtete, wie sich je nach meinen Aktionen und der Interpretation durch die Betrachter*innen neue Bedeutungen und Konnotationen in ihnen bildeten. Diese Interventionen dokumentierte ich mit Fotos und Videos. Ein zweiter Schwerpunkt meiner künstlerischen Praxis war Text und performatives Schreiben. Mit diesem Medium als Instrument der Meditation und einer gewissen Form der Selbsttherapie wollte ich mit den Betrachter*innen über sehr persönliche, oft verborgene, totgeschwiegene Dinge sprechen.
Im Sommer 2019 kam ich im Rahmen einer Künstlerresidenz im < rotor > – Zentrum für zeitgenössische Kunst erstmals nach Graz. Im Rahmen des gemeinsamen Austauschprojekts, bei dem <rotor> mit meinen Freunden in der Städtischen Galerie Charkiw zusammenarbeitete, verbrachte ich einen Monat hier. Am Ende schuf ich ein Kunstwerk aus den Wortverbindungen, die ich als Tags und Graffiti in den Straßen der Stadt gefunden habe und mit deren Hilfe ich einen (sehr spezifischen) deutschen Wortschatz gelernt habe. Dieses Werk war im Herbst desselben Jahres in Charkiw und Ende 2020, unter den Bedingungen eines harten Lockdowns, im <rotor> zu sehen.
Am 24. Februar, als Russland seine umfassende Aggression gegen die Ukraine startete und mit der Dauerbombardierung der Stadt Charkiw begann (die unglücklicherweise nur 40 km von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt ist), versteckten sich meine Familie, Freunde, Nachbarn und auch meine beiden Katzen und ich im Schutzraum im Keller unseres Hauses. In der ersten Kriegswoche verließen wir ihn kaum, und am dritten oder vierten Tag, als einige russische Einheiten in die Stadt eindrangen, bereiteten wir Molotow-Cocktails vor und machten uns für die Verteidigung bereit. Vom ersten Tag an, als ich in diesem unterirdischen Bunker saß, begann ich, kurze tagebucheintragsartige Texte zu verfassen und in meinen Social Media über alles, was wir durchmachten zu berichten. Dank meiner Freunde und all der Netzwerke, die ich während meiner künstlerischen Laufbahn aufgebaut habe, hat sich meine Botschaft herumgesprochen und meine Stimme fand Gehör. Hunderte Menschen aus der ganzen Welt folgten mir in den Social Media, brachten ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck, boten Hilfe an und versicherten mir und dem gesamten ukrainischen Volk ihre wärmste Unterstützung. Unterschiedlichste Medien – von kleinen Lokalmedien hin zu Global Playern – haben sich an mich gewandt, um ihrem Publikum auf der ganzen Welt meine Geschichte zu erzählen – die Geschichte eines realen, ganz normalen Menschen, dessen Leben durch den Krieg plötzlich zerstört wurde. Ich habe diese unerwartete Ressource nicht nur genutzt, um die Menschen in aller Welt zu informieren und zu sensibilisieren, sondern auch, um Spenden für die ukrainische Armee, die lokalen Verteidigungseinheiten in Charkiw sowie für humanitäre Initiativen und Tierrettung zu sammeln.
Meine Freunde von <rotor> waren unter den ersten, die mich zu Kriegsbeginn erreichten und mir großzügig jede mögliche Hilfe anboten, die ich brauchen könnte, und auch bei meiner eventuellen Evakuierung nach Graz. Damals hatte ich nicht das Gefühl, evakuiert werden zu müssen– meine Zufluchtsstätte und das Gebiet, in dem ich mich aufhielt, waren relativ sicher, und ich hatte eine bestimmte Mission zu erfüllen, für die ich in Charkiw bleiben musste, im wahren Epizentrum der Ereignisse. Das Einzige, worum ich <rotor> damals bat, war, meinen ersten Text irgendwie zu verbreiten, damit die Leute ihn lesen konnten. Anton Lederer vom <rotor> Leitungsteam übersetzte diesen Text ins Deutsche und las ihn auf der ersten Demo zur Unterstützung der Ukraine auf dem Grazer Hauptplatz laut vor. Danach hat er mir ein Angebot der Kleinen Zeitung übermittelt, diesen Text in ihrem Blatt abzudrucken. Bald darauf erhielt ich die Anfrage für weitere Texte für diese Zeitung. Und so begann ich für die Kleine Zeitung zu schreiben und habe bis jetzt 15 meiner Texte veröffentlicht, die von tausenden Österreicher*innen gelesen wurden. Anton Lederer vom <rotor> half mir bei den Übersetzungen. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie wichtig das für mich war, während ich in Charkiw war – zu wissen, dass ich gehört werde, zu wissen, dass sich die Menschen durch meine Texte mehr mit diesem Krieg beschäftigen, mit dem Schmerz des ukrainischen Volkes und damit, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich bis zum Ende des Krieges in Charkiw bleiben und den Sieg zu Hause erleben würde. Die meisten meiner Freund*innen waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgereist, und ich war aufgeregt beim Gedanken an unser Wiedersehen nach ihrer Rückkehr nach Charkiw. Aber ich schätze, dass meine Kräfte und geistigen Ressourcen einfach an ihr logisches Ende gekommen waren – es ist selbst für die Stärksten (zu denen gehöre ich keineswegs) zu schwer, so lange mit der gleichen Wut im Bauch zu kämpfen. Ich beschloss, meine Chance zu nutzen und zu gehen – nur um nicht durchzudrehen und einen Totalzusammenbruch zu erleiden. Und als es um meine Abreise ging, dachte an keine andere Möglichkeit als Graz. Ich war mir sicher, dass ich von <rotor> und dem „Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists“ – einer Organisation, die ukrainischen Kulturschaffenden bei ihrer Flucht und Integration in Österreich helfen soll – volle Unterstützung und alle notwendige Hilfe erhalten würde. Zu diesem Zeitpunkt (Mitte Mai) waren bereits viele meiner Freund*innen und Kolleg*innen aus Charkiw und anderen Teilen der Ukraine in Graz – und die Stadt selbst war mir nicht fremd. Am 18. Mai packten meine Mutter und ich unsere Sachen und meine beiden Katzen in ein Auto und verließen Charkiw und die Ukraine. Vier Tage später kamen wir in Graz an.
Jetzt lebe ich hier schon seit über zwei Monaten. Ich gewöhne mich an das Gefühl der Sicherheit, das ich fast vergessen hatte, ich heile und versuche, meine inneren Ressourcen wiederherzustellen, ich gewinne das Gefühl eines normalen Lebens zurück. Ich bin umgeben von hilfsbereiten und freundlichen Menschen, in einer Stadt, in der mir so viel vertraut ist und mit der ich viele schöne Erinnerungen verbinde. Mir geht es also gut. Aber trotzdem erinnert mich alles an mein Heimatland. Ich schaue in den friedlichen Himmel über Graz und muss daran denken, dass irgendwo da draußen, über der Ukraine, über meinem Charkiw, derselbe Himmel mit Gefahr, Feuer und Rauch und dem Pfeifen der Raketen erfüllt ist. Wenn ich mir die österreichischen Landschaften ansehe, muss ich daran denken, dass die ukrainischen Landschaften der Ukraine, mit denen ich mich als Künstler so oft beschäftigt habe und die den hiesigen zum Teil sehr ähnlich sind, jetzt verbrannt, zerbombt, vermint oder von Rädern und Panzerketten zerfurcht sind. Und daran, dass ich dort keine anderen Assoziationen einbringen kann, denn die einzige, die diesen Landschaften jetzt verbleibt, ist die an den Krieg. Aber eigentlich kann ich nicht einmal wissen, wann ich diese Landschaften wiedersehen werde. Die einzige Verbindung zu ihnen, die mir jetzt noch bleibt, sind meine Erinnerungen.
Diese Erinnerungen bearbeite ich in meinem Projekt in der Kunsthalle Graz durch die Kunstwerke, die ich in den Gegenden meines Heimatlandes geschaffen habe, als sie noch nicht vom Krieg gezeichnet waren. Durch die Erinnerungen möchte ich meine Verbindung zu den Landschaften der Ukraine aufrechterhalten, aber gleichzeitig auch über die neuen Umstände nachdenken, über das Gefühl, dass das Leben für mich und für jede/n Ukrainer*in nie mehr so sein wird wie zuvor. Und auch um meinen aktuellen als vorübergehend Vertriebene zu erforschen, den ich heute mit Millionen von Ukrainer*innen teile.
„Off-road“ steht für die Orte, an denen ich in der Ukraine meine Performances gemacht habe – es ist ein Wort, das diese namenlosen Felder und Wälder beschreibt, in die ich eindrang und die ich dann spurlos verließ. „Off-road“ ist eine Metapher für die Ungewissheit – das vorherrschende Gefühl derjenigen, die sich im Exil befinden – aber gleichzeitig geht es um unzählige Möglichkeiten und Ziele. Es geht ums „nirgendwo“, aber auch ums „Wo auch immer“. Es ist so unheimlich, „off-road“ zu sein – weil man nicht weiß, was auf einen zukommt, nicht weiß, in welche Richtung man geht und wo (oder ob) man am Ende ankommt. Und im Gegensatz zur „road“, zur Straße, führt der Weg „off-road“ zu keinem Ziel, denn er ist immerwährend.”